Geballte Rollenklischees
Rapunzel ist das schönste Kind weit und breit. So schön, wie die Sonne. Die eingesperrte Rapunzel wird von einem Prinzen gerettet, der sie dann heiratet. Gretel weint ängstlich und wird von Hänsel getröstet. Er wird sie retten. Später ist es wieder Gretel, die verzweifelt weint. Wieder tröstet Hänsel, er nimmt sein Schwesterchen an der Hand. Hänsel bekommt von der Hexe zu essen, Gretel nur die Krebsschalen. Aschenputtel ist das Töcherlein eines reichen Mannes. Im Sterben liegend gibt die Mutter noch den Rat, Aschenputtel solle fromm und gut bleiben. Und nach ihrem Tod „nahm“ sich der Mann eine neue Frau. Zum Fest des Königs wurden alle schönen Jungfrauen eingeladen. Eine Mutter gibt ihrer Tochter den Rat, ein Stück ihrer Ferse mit dem Messer abzuhacken, damit sie geheiratet wird. Und die Schwestern streiten sich mit hoher Opferbereitschaft darum, von einem Mann erobert zu werden. Schneewittchen wird an ihrer Schönheit gemessen. Sie wird vom Spiegel zur Schönsten im Land erkoren und bringt so ihre eigene Mutter dazu, Schneewittchen vor Eifersucht ermorden zu lassen. Schließlich wird Schneewittchen vom Prinzen geheiratet. Und das wunderschöne Dornröschen wird im Schlaf von einem unbekannten Mann geküsst, den sie dann heiratet. Die anderen Jünglinge verstarben in der Dornenhecke, weil sie ebenso die 100 Jahre schlafende (also im Koma liegende) Frau küssen wollten.
Die grausame Realität
Was fällt auf? Nicht Gretel nimmt das Brüderchen an die Hand. Es ist Hänsel, der das weinende Schwesterchen tröstet. Er ist stark, sie ängstlich. Rapunzel wird isoliert von der Gesellschaft – in der realen Welt eine Straftat – und wird von einem reichen und jungen Mann befreit aus ihrer Opferrolle. Aschenputtel erhält von ihrer sterbenden Mutter den Rat, sich anzupassen und den Männern zu gefallen. Kurz darauf „nimmt“ sich der Mann (als fahre er mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt) einfach die nächste Frau. Die Einladung aller schönen Jungfrauen bestätigt die Frauenshopping-Mentalität.
Getoppt wird das alles noch durch den Rat einer Mutter, die Tochter möge sich selbst gewaltsam verstümmeln, um vom schönen und reichen Mann „genommen“ zu werden. Dornröschen wird im Koma liegend von einem unbekannten Mann geküsst. (In der Urversion übrigens nicht geküsst, sondern vergewaltigt.) Und die Krönung aller Klischees ist die Eifersucht der eigenen Mutter, weil die Tochter als attraktiver wahrgenommen wird als sie selbst. Deshalb ist sie sogar bereit, ihre eigene Tochter töten zu lassen. Sie gibt also einen Mordauftrag, um selbst von reichen Männern erobert zu werden.
Veraltete Klischees?
Wer nun meint, das sind doch alles die Klischees aus uralten Märchen, möge mal einen Blick auf aktuelle Geschichten und Blockbuster werfen.
Mogli, als ausgesetztes Menschenkind erlebt im Dschungel viele Abenteuer. Am Schluss verliebt er sich in ein Mädchen, das den häuslichen Pflichten nachgeht. Der Nachfolger des Königs der Löwen muss sich mehrfach als Held beweisen, trägt Kämpfe mit anderen männlichen Tieren aus. Schließlich regiert er das Land und bekommt Nachwuchs mit einer Löwin, die in der Geschichte nur eine Nebenrolle spielt. Elsa hat magische Kräfte, die sie aber nicht unter Kontrolle hat. Sie wird als Hexe und Monster bezeichnet. Sonic ist ein Superheld, der mit seinen beiden Freunden gegen seine Gegner kämpft. Amy Rose zeigt ihre große Zuneigung Sonic gegenüber, der diese nicht erwidert und sie verstößt. Amy Rose wurde erst nachträglich erfunden und hält ihr Äußeres seit dem Ende der 1990er Jahre: Stöckelschuhe, ein hautenges Supermini Kleid. Sie wird entführt und von Sonic gerettet.
Die Auflistung lässt sich lange fortsetzen. Wir lesen diese Geschichten vor, sehen in Büchern und Zeitschriften die Bilder dazu.
Gesellschaftliche Entwicklung
Wundern wir uns ernsthaft noch, weshalb wir es gesellschaftlich nicht und nicht bewältigen, eine Gleichstellung zwischen Frau und Mann zu schaffen? Wir schaffen Frauenquoten, „bekämpfen“ den Glass-Ceiling-Effect, bieten (kaum genutzte) Väterkarenz, uvm. Doch wir lassen nach wie vor zu, dass tradierte Rollenbilder unseren Kindern Orientierung in der Welt geben und lesen diese oft unkommentiert vor.